“EIN ORT, DEN ES NICHT GEBEN SOLLTE”

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Gestrandet in Calais

Im Halbstundentakt bringt „Le Shuttle“ seine Fahrgäste durch den Eurotunnel vom französischen Calais nach Dover im Vereinigten Königreich. Ungefähr 50 Euro kostet die Fahrt für jeden, der den richtigen Reisepass besitzt. Für ca. 10.000 Männer, Frauen und Kinder bleibt die Fahrt in das nur 50 Kilometer entfernte Wunschziel ein weit entfernter Traum. Seit Monaten sammeln sie sich am Stadtrand von Calais, auf einem ehemaligen Industriegelände und leben unter unzumutbaren Bedingungen in Zelten oder Containern.

Ronja Keifer hat bis vor zwei Wochen für viele Monate in Calais gelebt und als eine von vielen Freiwilligen im Camp gearbeitet. Heute wird der „Dschungel“, wie das Camp auch genannt wird- geräumt. Conflictfood traf sich zu diesem Anlass in Berlin mit Ronja zum Interview.

Was war der Grund für dich, nach Calais zu gehen?

Letztes Jahr im Sommer habe ich in den Medien erste Bilder vom Camp gesehen und bald eine gewisse Unruhe in mir gespürt. Als ich über die Gruppe L´Auberge des Migrants erfuhr, dass Freiwillige dringend gesucht wurden, fiel meine Entscheidung schnell. Ich fuhr einfach hin.

Was hast du in Calais vorgefunden?

Das Camp an diesem Ort gibt es seit April 2015. Als ich ankam, lebten im Camp etwa 3.000 Geflüchtete in improvisierten Behausungen und Menschen kamen mit Sach- und Kleiderspenden an, aber alles war sehr unsortiert und chaotisch. Bald formten sich Strukturen ähnlich wie in einem kleinen Dorf: improvisierte Moscheen, Kirchen, Schulen, Frauentreffpunkte, Handy-Ladestationen und dergleichen. Was fehlte, waren ausreichend Toiletten. Gemeinsam mit den Geflüchteten und Freiwilligen wurden Sachspenden gesammelt, sortiert und verteilt. Gemeinsam mit der Refugee Community Kitchen habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, die tägliche Versorgung mit warmen Mahlzeiten zu gewährleisten.

Wie sah der tägliche Alltag für dich in der Refugee Community Kitchen aus? 

Morgens gegen acht beginnt die Arbeit in der Küche, durchschnittlich 120 Kilo Reis müssen erst gewaschen und dann gekocht werden, je nach Verfügbarkeit werden Gemüse und Hülsenfrüchte vorbereitet und zu einer warmen Mahlzeit verkocht. Auch frischer Salat wird täglich zubereitet. Jeden Tag, Montag bis Sonntag, haben wir ungefähr 2500 Portionen ausgeteilt.

Welche Rolle spielt das Essen für die Bewohner*innen?

Eine sehr wichtige! Als „Lebensmittel“ dient es natürlich erst einmal dazu, den Hunger zu stillen, ist darüber hinaus aber auch immer mehr als nur ein einfaches Bedürfnis. Jeder Einzelne hat einen eigenen Geschmack und verbindet etwas Persönliches mit Essen. Mir ist vor allem auch bewusst geworden, dass für viele Menschen eigentlich bedeutender ist, wie gegessen wird, also zum Beispiel in großer Gesellschaft. Das was wird dann eher zur Nebensache, wobei es auch hier viele Unterschiede gibt, etwa, wie scharf ein Essen sein sollte. Im Camp selbst habe ich Essen als etwas sehr Verbindendes und Friedliches erlebt, oftmals saßen Menschen unterschiedlicher Nationen an einem Tisch, Eritreer neben Äthiopiern, Christen neben Moslems. Als das Camp immer weiter gewachsen ist, und irgendwann um die 10.000 Bewohner hatte, habe ich das Essen stärker als Notwendigkeit erlebt. Es gab mehr Druck bei der Verteilung.

Wie ging es den Bewohner*innen im Camp?

Die lange Zeit im Camp ist für jeden zermürbend. Neuankömmlinge kamen mit viel Hoffnung, die Tag für Tag kleiner wurde. Das nagt an der psychischen Verfassung jedes einzelnen. Es gab immer wieder Streitereien. Im Camp gab es lange Zeit keine Polizei, es gab „community leader“-System – das waren meist jene, die gut Englisch sprachen. Aufgrund der hohen Fluktuation gab es aber keinerlei Konstante, alle kommen und gehen.

Wie sah die staatliche Hilfe im Camp aus?

Staatliche Hilfe gab es viel zu wenig. Neben Sanitären Einrichtungen, Wasserstellen und Müllentsorgung gab eine Essensausgabe für ungefähr 2000 Portionen. Zwischendurch wurden Container ergänzt, in denen etwa 2000 Menschen lebten. Im Allgemeinen wurde die Notlage von der Regierung nicht rechtzeitig anerkannt. Ohne die Hilfe der vielen Freiwilligen wäre es wahrscheinlich längst schon zu einer Katastrophe gekommen.

Warum zieht es viele nach ihrem langen Weg durch Europa nach England?
Nicht alle im Camp in Calais wollen nach England, viele haben in Frankreich Asyl beantragt und bisher keinen Platz in einer offiziellen Unterkunft bekommen. Für Sudanesen ist die Chance auf Asyl in England größer, das Verfahren geht viel schneller als etwa in Deutschland oder Frankreich. Viele wollen auch aus familiären Gründen nach England, auch die Sprache ist ein Bonus weil viele Geflüchtete eher Englisch als Deutsch oder Französisch sprechen.
Warum Gelangen Geflüchtete denn auch über den Kanal?

Manche ja, es gibt mafiöse Strukturen, die halsbrecherische Methoden anbieten. Bis zu 5.000 Euro werden für den Schmuggel verlangt. Viele versuchen sich in LKWs über die Grenze zu bringen. Für manche enden diese Versuche tödlich.

Hast auch du dich in den Monaten in Calais verändert?

Ja! Die Zeit im Camp hat mich sehr stark geprägt. Das Camp wurde schnell ein Stück weit Heimat und ich habe es wegen der Menschen sehr wertgeschätzt. Verändert hat sich für mich auch die Idee des Teilens. Anfangs hatte ich diesen „Wahn“ zu geben, ohne Ende zu arbeiten. Über die Monate habe ich gelernt, dass zum Geben auch ein Nehmen gehört – so wird es zur Chance für beide. Also habe ich begonnen, Einladungen zum Tee, zum Essen oder einfach zum Gespräch dankend anzunehmen.

Gerade wird das Camp von der Polizei geräumt. Wie geht es dir damit? 

Ich habe dabei gemischte Gefühle. Einerseits denke ich mir: Endlich tut sich was, denn so ging es nicht mehr weiter. Dieser Ort sollte nicht existieren! Andererseits habe ich Sorge um die einzelnen Menschen und ihre Schicksale. Ich hoffe auf eine friedliche Räumung und dass jeder eine sichere Heimat findet.

Danke an Ronja für das Interview!

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