Der Afghanistan-Einsatz ist beendet, doch der Krieg geht weiter
- 27. Juli 2021
- Afghanistan, Allgemein
7. Oktober 2001. Unter der Führung der USA beginnt eine Offensive gegen die Taliban-Regierung Afghanistans. Heute, knapp 20 Jahre später, endet ein Einsatz, der die Frage aufwirft: War es das wert?
Die Vorgeschichte
Als die US-Koalition angriff, hatte Afghanistan bereits zwei Jahrzehnte Krieg hinter sich: die brutale sowjetische Besatzung von 1979 bis 1989 und den direkt folgenden Bürgerkrieg, der bis heute ungelöst ist. Gegen die Rote Armee hatten die Mudschaheddin – auch mit US-Waffen – Widerstand geleistet, konnten sich danach jedoch nicht auf eine gemeinsame Zukunft einigen. Ihr rücksichtsloser Machtkampf zerstörte 1994 die Hauptstadt Kabul und führte zur Machtergreifung der Taliban.
Der Westen nahm auf diese Vorgeschichte keine Rücksicht. Die Zerstörer Kabuls und Gegner der Taliban wurden zu Partnern der USA. Die USA und NATO investierten viel Geld, um ein neues, demokratisches Afghanistan aufzubauen und ihre Transitwege für den Transport von wichtigen Rohstoffen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken an den Persischen Golf zu sichern. Doch schon zu Zeiten der Taliban gab es Verhandlungen mit den USA sowie einem brasilianischem Konsortium. Mit letzterem gab es sogar einen Vertrag, jedoch wurde dieser von den USA sabotiert. Bis zum Ende der Herrschaft der Taliban sollte kein neuer Vertrag mehr zustande kommen. Die Saat für neue Gewalt, neuen Terror und ausufernde Korruption war gelegt.
Am 9. September 2001 wurde einer der Anführer des afghanischen Widerstands gegen die Taliban, Ahmad Schah Massoud, ermordet. Wenige Tage später folgte der Anschlag auf die USA, der Auslöser für den Einmarsch der westlichen Truppen.
Die Nato kommt
Nach der Eroberung der Hauptstadt Kabul am 13. November 2001 gelang es US-amerikanischen Bodentruppen unter Mithilfe britischer Soldaten und den Milizen der Nordallianz, die Taliban in weiten Landesteilen zurückzudrängen.
Mit der UN-Resolution 1386 wurde im Dezember die internationale Schutztruppe (ISAF) geschaffen, an der auch die Deutsche Bundeswehr beteiligt war. Dabei handelte es sich um eine Sicherheits- und Wiederaufbaumission unter Führung der NATO. 2002 wurde unter Hamid Karzai eine im Petersberger Abkommen (intl. bekannt als Bonn Agreement) beschlossene Übergangsregierung etabliert, im Oktober 2004 führte Afghanistan Präsidentschaftswahlen durch, bei denen er zum Präsidenten gewählt wurde.
Obwohl es ab September 2008 mehrere Truppenverstärkungen gab, gelang es den USA und ihren Verbündeten nicht, die Taliban zu besiegen und das Land zu befrieden. US-Präsident Barack Obama plante 2009, alle US-Truppen bis 2011 aus Afghanistan abzuziehen. Tatsächlich endete die dreizehnjährige Kampfmission der NATO erst im Dezember 2014.
Im Zuge der Nachfolgemission “Resolute Support” waren bis zuletzt um die 12.000 Soldaten und Soldatinnen von NATO-Staaten in Afghanistan gleichzeitig stationiert. Gute 1000 davon Deutsche. Die Bundeswehr stationierte insgesamt rund 150.000 Soldatinnen und Soldaten, in Masar-i-Scharif und der Nähe von Kundus. Ihre vorrangige Aufgabe war die Beratung und Ausbildung von afghanischen Sicherheitskräften. Die Sicherheitslage hat sich trotz militärischer Unterstützung und finanzieller Hilfe massiv verschlechtert. Die politische Führung unter Präsident Aschraf Ghani war bis Anfang 2020, auch auf Grund des amerikanischen Einflusses, zerstritten. Die USA hatten massiven Einfluss auf das Wahlergebnis genommen, in dem sie entgegen der Verfassung Abdullah Abdullah (einen politischen Rivalen) 2014 zum Geschäftsführer der Regierung ernannten. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme belasten das Land zusätzlich schwer.
Viele Opfer auf beiden Seiten
Der Konflikt in Afghanistan zählt zu den tödlichsten der Welt. Die UN-Mission in Afghanistan dokumentiert die Zahl der zivilen Opfer erst seit 2009. Danach wurden bis Ende 2020 fast 111.000 Zivilisten getötet oder verletzt. Nach Schätzungen vieler Nichtregierungsorganisationen ist die tatsächliche Zahl deutlich höher. Im Mai und Juni 2021 sind laut UN fast 2400 Zivilisten verletzt oder getötet worden. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen ist das die höchste je erfasste Zahl ziviler Opfer für diese zwei Monate seit dem Beginn der Zählungen im Jahr 2009. Für die meisten zivilen Opfer sind die Taliban und andere extremistische Gruppen verantwortlich. Doch auch die internationalen Truppen haben den Tod von vielen Zivilisten zu verantworten – vor allem durch den Beschuss afghanischer Dörfer mit Kampfflugzeugen und Drohnen. Unter dem Friedensnobelpreisträger Obama gab es die meisten Drohnenangriffe überhaupt, er persönlich unterzeichnete die sogenannte “Kill List”. Die US-Armee selber verlor 2442 Soldaten, die Bundeswehr 59. Wie viele afghanische Soldaten und Polizisten getötet wurden, ist nicht bekannt. Die Zahl wird schon seit einigen Jahren aus Sicherheitsgründen geheim gehalten. Im Januar 2019 erklärte dann Präsident Ashraf Ghani beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos, dass seit seinem Amtsantritt 2014 mehr als 45.000 afghanische Sicherheitskräfte ihr Leben verloren hätten.
Über die Zahl der getöteten Taliban-Kämpfer und anderer Extremisten liegen ebenfalls keine gesicherten Erkenntnisse vor. Man geht von deutlich mehr als 50.000 Toten aus.
Money, money, money
Das Costs of War Project der Brown University hat evaluiert, dass die Vereinigten Staaten zwischen 2001 und 2021 mehr als zwei Billionen, also 2000 Milliarden Dollar, für den Afghanistan-Krieg ausgegeben haben. Etwa die Hälfte der Summe entfiel danach auf den Einsatz der US-Armee. Nach Angaben des Weißen Hauses investierten die USA im gleichen Zeitraum 144 Milliarden Dollar in den Wiederaufbau Afghanistans. Der Großteil dieser Summe, mehr als 88 Milliarden US-Dollar, sei in den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte geflossen und auch das weitere Geld ist ging fast ausschließlich an Projekte, die eine militärische Relevanz hatten.
Laut Auswärtigem Amt in Berlin hat Deutschland zwischen 2002 und 2020 mehr als 18 Milliarden Euro für den Afghanistan-Einsatz aufgewendet. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums entfielen 12,5 Milliarden Euro auf den Einsatz der Bundeswehr.
Nach Recherchen der Deutschen Welle hat das Auswärtige Amt seit 2001 zivile Unterstützung in Höhe von 2,4 Milliarden Euro geleistet. Der Aufbau staatlicher Institutionen sei zwischen 2002 und 2019 mit rund 950 Millionen Euro unterstützt worden.
Es gibt aber auch ganz andere Zahlen. Das „Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung“ beispielsweise schätzte die gesamten Kosten allein für die ersten zehn Jahre des Krieges schon auf etwa 36 Milliarden Euro.
Was hat die internationale Intervention erreicht, wo hat sie versagt?
Als die Intervention im Oktober 2001 begann, war Afghanistan ein isoliertes und zerstörtes Land. Nur drei Länder erkannten das fundamentalistische Emirat der Taliban an: Pakistan, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate.
Heute ist Afghanistan eine Islamische Republik mit einer demokratischen Verfassung und einer international anerkannten, gewählten Regierung. Frauen sitzen im Parlament, Mädchen besuchen die Schule. Es gibt eine junge, bildungshungrige Generation, die mit Leidenschaft die Angebote der neuen Schulen und Universitäten nutzt. Es gibt eine lebendige Medienlandschaft und neue Krankenhäuser. Doch das Land hat keinen Frieden gefunden und ist sozial tief gespalten. Ein Großteil der Hilfe kam nur den städtischen Eliten zugute. Über die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt weiter in bitterer Armut. Besonders betroffen: die umkämpften Gebiete im Süden und Osten des Landes – das Kernland der Taliban.
Gibt es eine Chance auf Frieden?
Zeitnah nicht. Nach ihrem Sturz im Winter 2001 waren die Taliban in einer Position der Schwäche, doch die USA lehnten Gespräche damals kategorisch ab. Das rächt sich jetzt, denn heute fühlen sich die radikalen Islamisten als Sieger – spätestens seit der Unterzeichnung des Doha-Abkommens im Februar 2020 mit den USA, dessen Verhandlung ohne Beteiligung der afghanischen Regierung stattgefunden hat.
Seit September 2020 finden inner-afghanische Friedensverhandlungen in Doha zwischen Taliban und der afghanischer Regierung statt, jedoch gibt es bis heute keine konkreten Erfolge.
Die Taliban haben eines ihrer Hauptziele aber schon erreicht: den bedingungslosen Abzug der internationalen Truppen. Sie sind militärisch in der Offensive und rücken landesweit auf urbane Zentren vor. Forderungen nach einem Waffenstillstand ignorieren sie. Sie lehnen die afghanische Verfassung ab und wollen sie durch ein “wahrhaft islamisches System” ersetzen.
In der ersten Hälfte dieses Jahres hat die Zahl der zivilen Opfer zugenommen. Vor allem Journalistinnen, Richterinnen und Aktivistinnen wurden durch gezielte Attentate getötet. Eine neue Welle von Gewalt rollt über Afghanistan. Es scheint als ob die Taliban den Sieg vor Augen haben.
Genauso wie der US-geführte Krieg im Irak hat auch der Konflikt in Afghanistan weltweit für mehr, nicht weniger Terror gesorgt. Er hat eine Region, in der die beiden Atommächte Indien und Pakistan miteinander rivalisieren und Iran, China und Russland nach mehr Einfluss streben, aufgewühlt.
Der Truppenabzug ist ein Eingeständnis für das eigene Versagen.